Silviu Guiman, Julius Tüting
„Die Gegenwart ist nicht nur durch Ästhetisierung, sondern ebenso durch Anästhetisierung gekennzeichnet“, beginnt Wolfgang Welsch seine Auseinandersetzung mit dem Anästhetischen. Ästhetik wird hier generell als Wahrnehmung verstanden. „Der Wahrnehmungsflut ist Wahrnehmungsverlust gesellt“; in der Wahrnehmungsflut gehen viele Details in den Wellen unter, die täglich auf uns einbrausen. Um im Bild zu bleiben: Je genauer wir eine einzige Welle betrachten um so mehr Wellen werden wir übersehen, von anderen Aspekten der Flut ganz zu schweigen. „Anästhetik tritt aber auch anders auf: notwendiger und unausweichlicher. Notwendiger dort, wo das Wegsehen, wo die Verweigerung eindringlicher Wahrnehmung schier zur Bedingung von Selbsterhaltung geworden ist. So bei zahlreichen gesellschaftlichen, umweltlichen, menschlichen Phänomenen ästhetischer Unerträglichkeit, von denen wir in der heutigen Massengesellschaft umgeben sind.“ Eine naheliegende Qualität des Anästhetischen ist die Anästhesie, besonders aber nicht nur im medizinischen Sinne. Sie ist die radikalste Form der Ausblendung und Wahrnehmungsverhinderung. Auf das Material bezogen sind verschiedenste Qualitäten festzustellen die das Verhindern von Wahrnehmungen zum Ziel haben. Schallschutz, Geruchlosigkeit, Wärmedämmung und Sichtschutz sind hier naheliegend. Aber über die naheliegenden, den Sinnesorganen zuordbaren Materialeigenschaften hinaus wären anästhetische Qualitäten weiter zu fassen. Die immer besser täuschenden Imitate, die aus Spanplatten edle Massivhölzer werden lassen, das bewusste Ausblenden der Indexe für effiziente und industrielle Materialien, denen ohne bedruckte Beschichtung die optischen, haptischen, oft aber auch technischen Qualitäten fehlen, um Wohn- und Lebensräume auszustatten.
Hier ist bereits eine weitere Dimension angeschnitten, die Wahrnehmungsverweigerung gegenüber politischen, ökonomischen, industriellen, modischen und somit gesellschaftlichen Verhältnissen, die sich schließlich in der ästhetischen Bewertung von Material und Form auch über die anästhesierende Funktion hinaus (mit)ausdrückt. Diese scheint im Naturholzimitat mitzuschwingen, erstreckt sich aber weiter, bis in Sphären der Welterklärung. Hier sei der Extremfall des Verschwörungsgläubigen angeschnitten, in dessen Welterklärungsstrategien permanent auf für ihn anästhetische Bünde und Bruderschaften verwiesen wird. Das Individuum entkommt seiner Rolle als Beteiligter an der Hervorbringung komplexer gesellschaftlicher Verhältnisse, und verweist im Angesicht der Unerträglichkeit dieser Verhältnisse auf die Anderen: Politiker, Polizisten, Kapitalisten oder gänzlich in anästhetische Sphären: Illuminaten, Reptiloiden, die jüdische Weltverschwörung, die 1% etc. Anästhetische Gefahren zeigen auch Aspekte, die den Materialien unserer Zeit offensichtlicher verbunden sind. Seit der Sichtbarmachung der Krankheitserreger, ein für das Design wichtiger Impuls, aber besonders durch die Atombombenabwürfen und die Katastrophe von Tschernobyl ist den Materialien in unserer Umgebung doch nicht mehr recht zu trauen, niemand sieht ihnen an, wie sie „wirklich“ sind.
Quellen:
Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken, Leipzig 1990, S. 63–65.