Wie können wir Greifbares und Ungreifbares miteinander verknüpfen und alltägliche Gegenstände hörbar machen? Welche Rückschlüsse auf menschliche Wahrnehmungsprozesse lassen sich ziehen und sind eventuell alternative Formen der Wahrnehmung denkbar? Mit seiner Bachelorarbeit „Klang-Körper” stellt Julius Walsch einen experimentellen Synthesizer vor, der wesentlich durch die interdisziplinäre Methodik des Artistic Research geprägt wurde. Der Funktionsprototyp überträgt die Oberflächen gescannter Objekte – also deren physische Gestalt – in akustische Wellenformen und erzeugt hierdurch die sogenannten Klangkörper; akustische Abbilder eines Objektes, welche durch algorithmische Projektion mit dem ursprünglichen Gegenstand verbunden sind und sich wie ein Fingerabdruck eindeutig zuordnen lassen. Die hierfür entwickelte Synthesemethode erweitert die Möglichkeiten des experimentellen Sounddesigns und bereichert Schaffensprozesse elektronischer Musik durch die akustische Erforschung physischer Artefakte und die Integration von Objekten – und ihrer klanglichen Haptik – in den kreativen Prozess. Die Arbeit wurde mit dem dritten Preis des Kölner Design Preises 2023 ausgezeichnet.
Die Bachelorthesis dokumentiert die Umsetzung eines objektbasierten Wavetable-Synthesizers und die Generierung dreidimensionaler Klangkörper anhand rotation-gescannter Artefakte. Ziel des Übertragprotokolls ist die Ableitung topologischer Charakteristika physischer Gegenstände in ein klangliches Spektrum der Wahrnehmung. Das im Rahmen dieser Bachelorthesis entwickelte Verfahren der algorithmischen Gestalt-Projektion überträgt zweidimensionale Charakteristika einzelner Objektschichten mithilfe von Trigonometrie in Wellenformen nach Prinzip des Einheitskreises. Durch die binaurale Betrachtung aus zwei akustischen Perspektiven folgt diese Art der Übersetzung dem Prinzip der binokularen Wahrnehmung, welche durch Zusammenführen zweier zweidimensionaler Informationsströme die höhere, dritte Dimension des Sehens ermöglicht.
Der durch das sukzessive Abspielen der Objektschichten entstehende sprichwörtliche „Klangkörper“ ist ein mathematisches Abbild seiner physischen Körperlichkeit und fingerabdruckartig mit dieser verschränkt. So wurde eine beidseitig rückführbare Korrelation zwischen den beiden Aggregatzuständen eines Klangkörpers geschaffen, welche den Versuch wagt, künstlerische Interpretationsspielräume in der Audifizierung zu reduzieren.
Das Objekt wird Klang und der Klang ist Gestalt.
Ein weiterer Aspekt der Ausarbeitung dieser Arbeit ist die Konzeption, Fertigung und Programmierung des Arte:fakta FT-1 Synthesizers. Ziel dieses Projekts war die Entwicklung eines funktionsfähigen Prototyps eines Wavetable-Synthesizers, welcher sowohl einen Objekt-Scanner als auch eine benutzerfreundliche Mensch-Maschine-Interaktionsschnittstelle umfasst. So wurde das zugrundeliegende Prinzip des Artefakt-Vermessens mittels eines Rotationsscanners und anhand verschiedener Prototypen exploriert, als Proof-of-Concept validiert und anschließend in einen modularen Prototyp integriert, welcher sich zwischen forschungsorientiertem Laboraufbau, elektronischem Musikinstrument und künstlerischer Installation verortet. Der FT-1 ermöglicht sowohl die Steuerung und Auswertung des Scan-Prozesses als auch die musikalisch-künstlerische Interaktion mit den Klangkörpern.
Herkömmliche Wavetable-Synthesizer basieren auf vorprogrammierten Wellenformen zur Klangerzeugung. Im Gegensatz dazu nutzt der hier vorgestellte Synthesizer die Prinzipien von Machine-Vision, um eine vielfältige Bibliothek von Klangkörpern zu erstellen. Durch das Scannen der Oberfläche eines Objekts erfasst der Synthesizer dessen filigrane Details, Kurven und topologischen Merkmale und übersetzt sie in diese Wellenformen. Parameter wie Abspielgeschwindigkeit, Tonhöhe, Modulation und Hüllkurvenformung können eingestellt werden und ermöglichen ausdrucksstarkes und dynamisches Sounddesign. Die Schnittstelle bietet ein visuelles Feedback und zeigt eine graphische Repräsentation des gescannten Artefakts in Echtzeit an. Hierdurch wird ein tieferes Verständnis über den Ursprung der synthetisierten Klänge gefördert.
Die Anwendungsmöglichkeiten des Synthesizers sind weitreichend. Musikschaffende, Kunstschaffende und Forschende können durch die Audifizierung verschiedener Objekte neue klanglich-musikalische Territorien beschreiten und Rückschlüsse auf menschliche Wahrnehmungsprozesse schließen. Die Möglichkeit, charakteristische Wellenformen aus Alltagsgegenständen zu erzeugen, eröffnet eine neue Ebene der Kreativität und des Experimentierens und verschiebt die Grenzen der traditionellen Klangsynthese. Der Arte:fakta FT-1 ist bestrebt, die Welt der elektronischen Musik und des Sounddesigns zu bereichern, indem er physische Objekte und Artefakte in den Syntheseprozess integriert. Durch die Verknüpfung des Greif- und Ungreifbaren eröffnet dieser Wavetable-Synthesizer neue Möglichkeiten der Erforschung von Klängen und ermöglicht eine experimentelle Form der einzigartigen Klangsynthese.
Fotos von Julius Walsch
Foto Nr. 6 von Patrick Schwarz