Darío Morazán gehört zu jenen Designer:innen, die materiell-physische Entwurfsprozesse aus der Perspektive des Digitalen neu denken. Im studio 40 in Köln sind seine neuesten zeichnerischen Arbeiten zu sehen – dynamische Liniensysteme als Programme und Prozesse.
Zeichnen ist eine künstlerische Tätigkeit mit langer Tradition, die im 20. Jahrhundert durch das Aufkommen neuer Bildgebungstechniken und Reproduktionsverfahren einen grundlegenden Wandel erfahren hat. Zu den technischen Veränderungen gehörte, dass Zeichnungen ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Hilfe eines Computers erzeugt werden konnten. Eine Tatsache, welche die gestalterischen Möglichkeiten erweiterte und dem Begriff der Zeichnung eine neue Dimension hinzufügte: Ausgehend von der Konzeptkunst der 1960er Jahre zeichneten Künstler:innen nicht länger mit der Hand, sondern schrieben ein Konzept, das sie mittels einer Programmiersprache in einen Algorithmus übersetzten und mithilfe eines computergesteuerten Zeichengeräts – etwa eines Plotters – in Zeichnungen ausführten. Zeichnerische Formen werden nicht mehr direkt entworfen, vielmehr werden die Bedingungen und Regeln bestimmt, nach denen die Formen entstehen. Durch meist verbalsprachliche Handlungsanweisungen wird der Anstoß zu einer von den Zeichner:innen unabhängigen Ereigniskette gegeben.
In dieser Perspektive ist die Zeichnung weniger ein Medium zur Aufzeichnung als eines zur Anweisung von Prozessen, Bewegungen und Abläufen. Sie ist ein Algorithmus, der aus einer Folge von Regeln besteht, die den zeichnerischen Prozess präzise beschreiben und steuern. Kennzeichnend für dieses Zeichnungsverfahren ist, dass auf den laufenden Generierungsprozess nur geringfügig Einfluss genommen wird. Stattdessen fließen Aktivität und Kreativität der Zeichner:innen in die Erfindung und Beschreibung der prozesssteuernden Faktoren und der formbestimmenden Funktionen sowie in die Wahl der Randbedingungen wie etwa Art des Zeichengrundes und des Zeicheninstrumentes ein. Schließlich bleiben auch die Auswahl, die Abwandlung, die Gruppierung oder Kombination von prozessual gewonnenen Formen und Strukturen der Intention und Subjektivität der Zeichner:innen vorbehalten.
Das Arbeiten in Serien, in denen sich jede Zeichnung in kontinuierlichem Fortschreiten von der vorhergehenden ableitet, wird dabei zum Grundprinzip. Variationen werden systematisch durchgespielt. Sie entstehen durch die unterschiedliche Bestimmung von Variablen oder durch die Einbeziehung von Zufallsoperationen. Inhalt und Form einer Gestaltung werden somit nicht im Vorhinein festgelegt und durch Zeichnungen lediglich illustriert. Vielmehr entstehen Gestaltungen sukzessive durch Handlungsvorschriften und wiederholte, von Regeln gesteuerte Überschreibungen.
Diesem generativen Verfahren folgt Darío Morazán mit seinen zeichnerischen Arbeiten, die er im Juli 2023 in der Laborausstellung »function draw ()« im Studio 40 in Köln präsentierte. »function draw ()« führt in das programmierte Zeichnen als grundlegende Designmethode für eine systematische und komplexe Gestaltung von Prozessen und Artefakten ein. Darío beleuchtet den Programm-Begriff ausgehend von einer materiell-physischen Zeichnungspraxis und setzt ihn mit jenen digitaltechnischen Verfahren in Beziehung, durch die Zeichnungen mittels Code entstehen. Er geht dabei der Frage nach, wie Kulturen des Digitalen die körpergebundene Zeichnungspraxis beeinflusst haben, und umgekehrt, wieviel Digitalität bereits in analogen Zeichnungen enthalten sind. Die Bandbreite der Exponate reicht von Zeichnungen, die räumliche Prozesse in flächige Formen und Texturen verwandeln, über Zeichnungsserien, die sich aus einer streng reglementierten Arbeitsweise ergeben, bis hin zu Großformaten, die das Resultat einer strukturierten Körperbewegung sind. Dabei treten zu den dynamischen Liniensystemen auch Schrift und Zeichen und verknüpfen das Sichtbare mit dem Lesbaren, ohne dass sich jedoch die Bedeutungen der zeichnerischen Gebilde unmittelbar erschließen lassen.
Hinter jeder Zeichnung stehen komplexe Arbeitsalgorithmen, die selbst bei gleicher Eingabe von einer Ausführung zur nächsten variieren. Beispielsweise gründet die zeichnerische Serie »Crime Scenes« darauf, dass unterschiedliche Gegenstände wie Pinsel, Klammer, Schnur auf ein Zeichenpapier fallen gelassen werden. Wie bei der Rekonstruktion eines Tathergangs werden die zufällig arrangierten Gegenstände auf dem Papier konturiert. Jeder zeichnerische Prozesschritt folgt einer definierten Regel. So werden auf Grundlage der Konturlinien Schablonen angefertigt, mittels derer weitere Liniengebilde der Zeichnung in spezifischer Reihenfolge zugefügt werden. In einem anderen Experiment, das in der Gruppe erfolgte, untersuchte Darío, wie Handzeichner:innen und Digitalzeichner:innen auf die gleiche Zeichnungsanweisung reagieren, welche Arten von Zeichnung innerhalb eines vorgegebenen kurzen Zeitraums entstehen und welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten sie aufweisen. Die Ausstellung hält neben den Zeichnungen auch dokumentierende Kurzfilme bereit, die den komplexen Vorgang der zeichnerischen Entstehung für die Besucher:innen erschließen.
Die Ausstellung »function draw ()« von Darío Morazán entstand im Fachgebiet Designtheorie und -forschung der Köln International School of Design der TH Köln. Sie ist das Ergebnis von Daríos Arbeit im Rahmen des Workshops »Learning by Drawing« unter der Leitung von Dr. Meike Eckstein (Zürcher Hochschule der Künste) und seines darauf aufbauenden Intermediate-Projekts, betreut von Prof. Dr. Carolin Höfler. Der Workshop fand im Rahmen des Kooperationsprojekts »Open Universities« der TH Köln und der Universität zu Köln statt, das von der RheinEnergie Stiftung im Schwerpunktprogramm »Gesellschaft und digitale Transformation« gefördert wird.
Zeichnungen & Videos: Darío Morazán
Kurator:innen: Byron Co, Sarah Linßen
Aufbau: Sarah Linßen, Byron Co, Tomy Badurina
Gruppenexperiment: Rina Cellarius, Alpar Gür, David Keitel, Maura Steinbach
Fotos: Byron Co, Carolin Höfler, Darío Morazán, Matthias Karch, Sarah Linßen, David Steckelbach